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Er hat sie mit dem Flugzeug holen lassen. Dem
Eisenvogel, hat man ihr im Dorf gesagt.
Hier hat sie ihren Namen verloren.
Tutsi. Er benennt sie lieber nach ihrer Rasse.
Auch er hat seinen Namen verloren. Er will, dass sie ihn Papa nennt. Weil ab jetzt er sich um sie kümmert, wie vorher in der Hütte der andere Papa.
Als sie zur Jagd kommen, ist es schon kein Dort mehr. Ein weiteres Mal genügt es, den Boden zu betreten, damit es ein Hier wird. Hier in der Hütte im Wald hat Papa seine Büchsen hervorgeholt. Die Büchsen waren in Lederhüllen gepackt, aber sie hat die Form erkannt. Ihr anderer Papa, dort, bewahrte eine unter seinem Strohsack auf. Das Holzhäuschen hat ihr auf Anhieb gefallen. Selbst wenn man drinnen ist, riecht es nach draußen. Und dann gibt es wie dort eine Menge Tierchen. Es gibt nur ein Bett, ein kleines, und sie denkt, dass Papas dicker Bauch nicht genug Platz haben wird. Man muss schon sagen, dass Papa dick wie ein Nashorn ist. Wo wird Papa schlafen? Papa sagt, dass er morgen zurückkommt. Sehr früh, und dass sie dann bereit sein muss. Trotzdem lässt er seine khakifarbene Hose herunter, ohne vorher die Schuhe auszuziehen. Dann geht er zurück.
Sie schläft nicht gut. Das Draußen ist drinnen. Und weil sie die Geräusche der Tiere nicht kennt, die sich ihrem Versteck nähern, stellt sie sich ein merkwürdiges Wesen vor, mit riesigen Hörnern und Harkenklauen am Rumpf eines Wildhundes. Draußen ist ein unheimliches Dort, und dieses Dort ist hier. Sie findet eine Nische auf dem Boden, zwischen dem Ofen und einer Kommode. Ein kleiner Spalt, wo sie sich in ihre Decke wickelt, die Ohren zuhält und die Augen fest schließt. Dann wiederholt sie: Hier–Hier–Hier–Hier. Um die Dorts zu verscheuchen.
Er zeigt auf eine kleine Hütte, die auf vier langen Holzpfählen steht. Obwohl, es sind eher vier Bretter und ein Dach als eine Hütte. Sie denkt: Da passen sie niemals beide hinein. Aber sie rücken eng zusammen, und auf Papas Schoß sitzend kann sie rings um sie herabblicken. „Das ist zum Beobachten.“ Sie soll still sein und sich nicht bewegen. Er sagt: Die können sie riechen. Sie warten lange. Sie bewegt sich nicht, auch dann nicht, als Papa sich an ihrem Hintern reibt, als das, was sie nicht benennt, ganz hart wird und ihr in die Lenden sticht und sie Schmerzen hat. Sie rührt sich nicht. Sie vergisst ihren Körper, um nur Ohren und Augen zu sein.
Sie hat noch nie einen Hirsch gesehen. Leib und Kopf ähneln denen der Impala, die ihr vertraut sind, aber anstelle der schönen langen Hörner hat das Tier eine Krone aus Zweigen. Mindestens zehn Kilo toten Baum auf dem Schädel. Es gibt in diesem Hier also ein Geschöpf, das gleichzeitig Tier und Pflanze ist! Und nicht nur so tut, wie die Umupfumu mit ihren Masken. Es ist wirklich so. Sie denkt: Hier werden die Lebewesen zu ihrer Umgebung. Ob sie wohl die weiße Farbe von Schnee annimmt, wenn sie zu lange bleibt? Ob ihr Körper durchsichtig wird und den Wind hindurch lässt?
Bevor ihre endgültig verdrehten Gedanken ihr zuflüstern, dass die Verwandlung schon stattgefunden hat, dass sie, seit die Aasgeier ein Auge auf sie geworfen haben, nur noch ein namenloser Schatten ist, sagt Papa: „Wenn die Hoden des Hirsches verletzt sind, verkümmert das Geweih, und wenn der Hirsch unausgewogen frisst, verkümmert das Geweih ebenfalls. Dieses Geweih, dieses wunderschöne Geweih, ist zu etwas gut, und dieses Etwas heißt Selektion. Die Selektion findet während der Paarungszeit statt. Dann stoßen die Hirsche aus ihrer Kehle seltsame Laute hervor, die im Wald widerhallen, und fordern einander heraus, während sich die Weibchen, zitternd vor Erregung, an den Lichtungen scharen und warten. Und nachts vollzieht sich dann ein erbittertes Gefecht, ein Kampf um die Vorherrschaft, um die Selektion. Rasant wie eine Lawine stürzen sich die Hirsche aufeinander, ihre gegeneinanderprallenden Geweihe dröhnen wie sich entladende Feuerwaffen. Das Gefecht geht weiter, bis einer von beiden verzagt und die Flucht ergreift. Nachdem er durch ein letztes Röhren in alle vier Himmelsrichtungen seinen Sieg verlautet hat, schreitet der starke Hirsch majestätisch, imposant auf die Weibchen zu, die sich da versammelt haben und die er erobert hat, was in einer Orgie nach der anderen gipfelt. Von Zeitalter zu Zeitalter spielen sich die gleichen Rituale ab, bei allen Säugetieren der Erde, es kann gar nicht anders sein, sonst würden die Spezies entarten. Nur beim Säugetier Mensch ist die Selektion völlig entartet, und das ist absolut widernatürlich und äußerst schädlich für unsere Entwicklung! Nur die starken Hirsche dürfen die Weibchen besitzen, wenn sie fruchtbar sind. Nur das ist natürlich!“
Dann macht Papa diese komische Sache. Er holt sein Ding aus der Hose, nimmt es in die Hand und schreit in alle vier Himmelsrichtungen.
Zurück in der Hütte zieht Papa sich aus und verlangt, dass auch sie sich entblößt. Dann nimmt er seinen Gürtel, legt ihn um ihren Hals, schiebt das Ende durch die Schnalle und befiehlt ihr, auf allen vieren zu knien. So hält er sie an der Leine, packt ihren Hintern und besteigt sie röchelnd; sie denkt: so muss ein röhrender Hirsch klingen. Als wiederum sie schreit, fragt sie sich, ob das die Große Erregung und die Orgie der Hirschkühe ist. Sie kann benennen, was sie fühlt, den ganzen Schmerz ihres zerrissenen Körpers, aber sie begreift, dass ihre Gedanken einmal mehr völlig verkehrt sind. Papa hat keine Schmerzen. Papa schreit auch, aber man hört, dass es sich gut für ihn anfühlt. Papa ist weise. Das hat man ihr im Dorf gesagt. Außerdem sagt er, dass der Gott der Liebe es so will. Trotzdem schmeckt es nach Krieg. Weil sie nur ein Loch hat, eine Leere, da wo Papa so ausgefüllt ist, könnte es doch normal sein, dass sie Schmerzen hat? Er sagt, sie sei eine Hirschkuh und es sei natürlich. Genau deshalb übrigens nimmt er sie wie ein Tier. Nicht wie ein Mensch. Nein, wie ein Hund. Ach, wie die Hündin, die er manchmal an der Leine führt, wenn er sie dort besucht. Und an dem Halsband zieht, damit die Hündin ihm gehorcht. In dem anderen Dort sind die Hunde wild und werden nicht an Leinen gehalten, aber das sagt sie ihm nicht.
Papa hat sich wieder angezogen, seine Büchse genommen und sie gebeten, ihm nach draußen zu folgen. Noch nackt und blutig muss Tutsi hervorkriechen, denn seit die Orgie beendet ist, liegt sie entkräftet in ihrer Nische zwischen Ofen und Kommode. Nun muss sie also ihren Körper nach draußen schleifen. Als der Schuss losgeht, versteht sie nicht gleich. Erst als sie sieht, dass die Mündung des Gewehrs auf ihr Gesicht zielt, überlegt sie, loszulaufen. „Ich komme in zwölf Wochen zur Treibjagd zurück. Wenn du in anderen Umständen bist und das Kind noch lebt, werden wir einen Gott auf die Welt bringen!“, hört sie zwischen zwei entsetzlichen Pengs.
Aus dem Französischen von Ina Böhme